EXPERTENINTERVIEW EXPERTENTELEFON \"POLYNEUROPATHIE\" am 10.11.2011
Welche Ursachen können hinter einer Polyneuropathie stecken?
- Dr. med. Alin Stirban: Lassen Sie uns zuerst das Wort Polyneuropathie kurz erklären: diesem liegen mehrere griechisch stammende Wörter zugrunde: poly = mehrere, neuro = Nerven, patho = Leiden. Also ist die Polyneuropathie ein Leiden mehrerer Nerven. Auch wenn die Polyneuropathie häufig im Rahmen des Diabetes mellitus (Zuckerkrankeit) vorkommt, sollte man nicht vergessen, dass es auch andere Ursachen geben kann, wie degenerative Nervenerkrankungen (z.B. die chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie, eine entzündliche Erkrankung der peripheren Nerven), die Urämie bei Niereninsuffizienz, ein chronischer Vitamin B12- oder Vitamin B1-Mangel oder eine Schilddrüsenunterfunktion, um die häufigsten Ursachen zu nennen.
Muss man auch bei vorübergehenden Missempfindungen an Beinen und Füßen an eine Nervenstörung denken?
- Dr. med. Alin Stirban: Missempfindungen, ob vorübergehend oder chronisch, sind der Ausdruck einer Nervenstörung. Vielmehr stellt sich die Frage, ob diese Nervenstörung für eine Person eine Bedeutung hat und behandelt werden muss. Vorübergehende Empfindungsstörungen können zum Beispiel zustande kommen, wenn ein zuvor über längere Zeit schlecht eingestellter Patient durch die Änderung der Diabetestherapie plötzlich sehr gute Blutzuckerwerte aufweist. Der Körper (und die Nerven natürlich auch) hatten sich an die hohen Blutzuckerspiegel „gewöhnt“, betrachten die nun normalen Werten als „ungewöhnlich“, signalisieren dies durch Missempfindungen und benötigen etwas Zeit, um sich an die neuen Werten anzupassen. Solche vorübergehenden Beschwerden sollten zwar dem behandelnden Arzt unbedingt geschildert werden, benötigen aber in der Regel keine Therapie. Sollten aber Beschwerden ohne erkennbare Ursache über mehrere Tage andauern oder sogar zunehmen, ist es Zeit für ein ernstes Gespräch mit dem Arzt. Man sollte unbedingt bedenken, dass eine Nervenstörung nicht nur durch Missempfindungen kennzeichnet ist, sondern auch durch Nachlassen der Reizwahrnehmung. Die ist sehr gefährlich, weil die Schmerzempfindung uns vor viel Übel schützen kann. Auch sollte man berücksichtigen, dass die Beschwerden in der Regel einschleichend zustande kommen, öfters über Jahre und dass man diese Entwicklung nicht immer mitbekommt. Mit anderen Worten merken die Menschen nicht, „dass sie nichts merken“!
Nicht alle Diabetiker erkranken an einer Polyneuropathie. Warum trifft es manche Betroffene und andere bleiben verschont?
- Dr. med. Alin Stirban: Die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie kommt nach neuesten Erkenntnissen doppelt so häufig bei Patienten mit einem Typ-2-Diabetes mellitus (so genannter Alterszucker) vor als bei Patienten mit einem Typ-1-Diabetes mellitus (so genannter Juveniler Diabetes). Laut einer englischen Studie scheinen Frauen häufiger von einer schmerzhaften Polyneuropathie betroffen zu sein als Männer. Man muss bedenken, dass die Wahrscheinlichkeit eine Polyneuropathie zu entwickeln mit zunehmender Diabetesdauer, schlechterer Stoffwechseleinstellung und mit dem Alter zunimmt. Da jeder Patient über die Jahre seine individuelle Diabetesdauer und Stoffwechseleinstellung und sein individuelles Alter aufweist, ist es schwierig, die Patienten miteinander zu vergleichen. Denkbar ist auch, dass manche Personen aufgrund vererbter Eigenschaften, durchgemachter Erkrankungen, Lebensgewohnheiten (z.B. Alkoholkonsum) anfälliger für die Entwicklung einer Polyneuropathie sind als andere. Die oben genannte Frage lässt sich also leider nicht einfach beantworten (wenn überhaupt...).
Welche Folgen hat eine unbehandelte Polyneuropathie im schlimmsten Fall für einen Diabetiker?
- Dr. med. Alin Stirban: Außer der Beeinträchtigung der Lebensqualität, z.B. durch anhaltende Schmerzen (die ihrerseits Schlafstörungen, Depression, Konzentrationsstörungen, etc. verursachen können), ist das absolute Horror-Szenario die Entwicklung eines so genannten diabetischen Fußsyndroms („diabetischer Fuß“), das bis hin zu Amputationen führen kann. Ein Beispiel: Ein Patient mit verminderter Schmerzempfindlichkeit auf dem Boden einer diabetischen Polyneuropathie bekommt eine Blase nach langem Laufen. Jeder von uns würde das spüren und würde in der nahen Zukunft Rücksicht nehmen. Nicht aber der Patient, der nichts merkt und weiter herumläuft. Die Blase entwickelt sich zu einer Wunde – der Patient merkt immer noch nichts. Die Wunde – unbehandelt – infiziert sich und fällt auf, in dem Moment, wo eine deutliche Rötung des Vorfußes zu sehen ist. Die Rötung ist zwar zu sehen, der Patient geht jedoch nicht zum Arzt: Die Wunde tut nicht weh, es kann also nicht allzu schlimm sein. In den nächsten Tagen nimmt aber der Lokalbefund rasant zu, nun ist der gesamte Vorfuß gerötet und geschwollen. Erst jetzt geht der Patient zum Arzt, der ihn stationär einweist. Eine Antibiotikatherapie wird eingeleitet, aber der Knochen ist durch die mehrtägige Infektion betroffen: Da hilft nur noch eine Amputation. Soweit muss es nicht kommen, viele Amputationen wären durch eine rechtzeitige Vorstellung beim Arzt zu vermeiden.
Kann ein Polyneuropathie-Patient, der nicht Diabetiker ist, ebenfalls einen diabetischen Fuß bekommen?
- Dr. med. Alin Stirban: Ja, man würde es nur semantisch eher nicht als „diabetischen Fuß“ bezeichnen. Auch für Empfindungsstörungen anderer Ursachen als eine diabetische Polyneuropathie trifft das oben beschriebene Szenario zu. Nur dass Patienten mit einem Diabetes mellitus zusätzlich eine erhöhte Infektanfälligkeit aufweisen.
Wie lässt sich eine diabetische Neuropathie am besten behandeln bzw. stoppen?
- Dr. med. Alin Stirban: Am Wichtigsten ist natürlich eine optimale Stoffwechseleinstellung mittels maßgeschneiderter Diabetestherapie. Somit packt man das Übel an der Wurzel. Therapien, die nicht nur schmerzlindernd wirken, sondern auch das Fortschreiten der Polyneuropathie verlangsamen oder sogar stoppen könnten, wären z.B. eine hochdosierte Vitaminsubstitution (z.B. mit Vitamin B1 oder der besser bioverfügbaren Vitamin B1-Vorstufe Benfotiamin) oder eine Therapie mit Alpha-Liponsäure. Diese 2 Präparate gehören zu der so genannten pathogenetisch orientierten Therapie der Polyneuropathie. Die Behandlung der Schmerzen kann mit verschiedenen Mitteln stattfinden, die auch in der Behandlung anderer Erkrankungen, wie z.B. der Depression, Anwendung finden. Alkoholkarenz und regelmäßige körperliche Betätigung sind ebenfalls von großer Bedeutung. Man sollte jedoch vor dem Sport mit dem Arzt über Möglichkeiten und Einschränkungen sprechen und insbesondere dafür sorgen, dass passendes Schuhwerk (mit diabetikergerechten Einlagen oder Schuhen) angezogen wird und dass regelmäßig (täglich) eine Inspektion der Füße stattfindet.
Das bei diabetischen Nervenstörungen eingesetzte Benfotiamin ist eine Vitamin-Vorstufe. Wie ist die Wirkung zu erklären?
- Dr. med. Alin Stirban: Benfotiamin ist die Vorstufe des Vitamins B1 (auch Thiamin genannt), ein Vitamin, das von allen Zellen des Körpers benötigt wird, unter anderem auch von den Nervenzellen. In den Zellen verhilft es unter anderem zur Verstoffwechselung der Glukose. Die Glukose (der Zucker) wird im Körper als „Brennstoff“ benutzt, um Energie zu produzieren. Ist jedoch zu viel Glukose im Blut vorhanden (wie z.B. im Rahmen des Diabetes mellitus), kann nicht alles vollständig „verbrannt“ werden und es sammeln sich unvollständig „abgebrannte“ Produkte an, die u.a. für die Entstehung der Diabeteskomplikationen verantwortlich gemacht werden. Benfotiamin aktiviert einen Prozess, der die Verstoffwechselung der Glukose über einen anderen Weg fördert und somit die Menge der toxischen Produkte reduziert, die unter anderem die Nerven angreifen.
Es wurde auch gezeigt, dass Patienten mit Diabetes mellitus einen Thiaminmangel aufweisen. Da Thiamin für die einwandfreie Funktion auch der Nerven notwendig ist, könnten die positiven Wirkungen des Benfotmianis (das im Körper zu Thiamin umgewandelt wird) möglicherweise auch durch das Aufheben des Thiaminmangels erklärt werden.
Verträgt sich Benfotiamin mit anderen Diabetes-Medikamenten bzw. Insulin?
- Dr. med. Alin Stirban: Benfotiamin verträgt sich gut mit anderen Diabetesmedikamenten, Insulin eingeschlossen.
Welche Rolle spielen Schmerzmittel bei der Behandlung der Polyneuropathie?
- Dr. med. Alin Stirban: Schmerzmittel stellen mit Sicherheit eine der Hauptsäulen der Therapie der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie dar. Auch wenn sie wie kein anderes Mittel zur Linderung der Beschwerden (Schmerzen) beitragen, sollte man nicht vergessen, dass die Schmerzmittel nicht zur Wiederherstellung der Nervenfunktion beitragen, wie z.B. eine optimale Diabeteseinstellung oder eine pathogenetisch orientierte Therapie.
Was können Betroffene selbst tun, um mit der belastenden Nervenerkrankung fertig zu werden?
- Dr. med. Alin Stirban: In erster Linie sprechen Sie mit Ihrem Arzt über Ihre Erkrankung und die therapeutischen Möglichkeiten die für Sie in Frage kommen. Achten Sie auf Ihre Diabeteseinstellung, machen Sie Sport (siehe oben genannte Vorsichtsmaßnahmen), vermeiden Sie Alkohol (dieser kann Ihre Beschwerden verstärken) und beginnen Sie insgesamt frühzeitig mit einer Therapie. Manchmal, insbesondere wenn die Beschwerden sehr ausgeprägt sind und die Nachtruhe gestört ist, kann die Polyneuropathie die Lebensqualität sehr einschränken. In solchen Fällen kann eine psychologische Mitbehandlung notwendig und nützlich sein.
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